Auslegung Matthäus 6, 14–15 LUTH 1984: “Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.”
Die Worte Jesu in Matthäus 6,14–15 stehen in unmittelbarer Verbindung mit der fünften Bitte des Vaterunsers: “Und vergibt uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.” .…. und verdeutlichen die zentrale Bedeutung der Vergebung im Leben eines Jüngers. Viermal fällt in den beiden parallelen Sätzen das Schlüsselwort „vergeben“, ein Hinweis auf die Dringlichkeit und Tiefe dieses Auftrags. Im griechischen Urtext trägt das Wort die Grundbedeutung, jemanden von einer Verpflichtung oder Schuld freizumachen. Im geistlichen Sinn heißt das: Schuld, die durch das Brechen von Gottes Geboten entsteht, nicht festzuhalten, sondern sie loszulassen. Vergebung ist damit kein bloßes Übersehen oder Bagatellisieren, sondern ein aktives Handeln, das den anderen aus der Bindung seiner Schuld entlässt.
Wer vergibt, spiegelt das Handeln Gottes wider, der selbst Schuld vergibt und den Menschen in die Freiheit seiner Gnade stellt. Umgekehrt macht Jesus deutlich: Wer nicht bereit ist, anderen zu vergeben, verschließt sich selbst der Vergebung des Vaters. So wird Vergebung zur entscheidenden Haltung, die das Leben eines Christen prägt – nicht als Option, sondern als notwendige Konsequenz des Empfangenen. In ihr zeigt sich die Wahrheit des Evangeliums: dass Gottes Liebe stärker ist als jede Übertretung und dass die Gemeinschaft mit ihm nur dort lebendig bleibt, wo auch wir einander frei machen.
Die Worte Jesu in der Bergpredigt führen uns mit großer Eindringlichkeit vor Augen, dass der Neuanfang mit Gott untrennbar mit dem Neuanfang mit den Menschen verbunden ist. Vergebung ist keine Nebensache, sondern die Bedingung für das Leben in der Gemeinschaft mit dem Vater. In fast erschreckender Klarheit macht Jesus deutlich:
Gottes Vergebung bleibt uns verschlossen, solange wir selbst nicht bereit sind, anderen zu vergeben.
Der Zugang zur Gnade steht offen – doch er öffnet sich erst dann, wenn wir das loslassen, was uns an Schuld und Verletzung durch andere bindet.
Damit berühren wir eine der großen Linien in Jesu Verkündigung: Neues Leben ist für ihn nicht ein bloßes „Mehr“ oder „Besser“, sondern ein radikaler Neuanfang. Umkehr bedeutet nicht ein wenig Korrektur, sondern völlige Umkehr – ein Leben, das sich ganz von Gott her bestimmen lässt und darum auch im Umgang mit den Menschen neu wird. Gerade den inneren Bruch in unserer Frömmigkeit verurteilt Jesus: den Bruch zwischen dem Reden von Gott und dem Handeln gegenüber den Menschen, den Bruch zwischen äußerer Religiosität und innerem Herzen.
Es ist eine ernste Mahnung: Wer sich weigert zu vergeben – aus Prinzip, aus Selbstgerechtigkeit oder aus dem Wunsch, Schuld festzuhalten – der stellt sich selbst außerhalb der Vergebung Gottes. Jesu Wort ist nicht Drohung, sondern Wahrheit: Nur dort, wo wir vergeben, kann Gottes Vergebung uns erreichen. Vergebung ist daher nicht Schwäche, sondern die Kraft, die das Herz frei macht und den Weg zu Gott öffnet. Sie ist das Siegel der echten Nachfolge, das Zeichen dafür, dass wir das Kreuz nicht nur verstehen, sondern tragen.
Die Gefahr, die Jesus in der Bergpredigt anspricht, ist nicht nur die Selbstgerechtigkeit derer, die meinen, durch eigene Werke vor Gott bestehen zu können. Sie zeigt sich heute auch auf der anderen Seite des Kreuzes: im leichtfertigen Vertrauen auf eine Gnade, die von der Umkehr und der Nachfolge losgelöst wird. Jesus lehrt vor Golgatha, vor seinem Tod, um die Notwendigkeit des Kreuzes zu offenbaren, dass kein Mensch durch eigene Gerechtigkeit bestehen kann. Doch ebenso macht er deutlich, dass die empfangene Gnade nicht zur billigen Ausrede werden darf, die uns von der Vergebung und der Umkehr entbindet.
„Gott ist gnädig und barmherzig, er ist Liebe“ – dieser Satz ist wahr, aber er wird oft zu oberflächlich gebraucht. Wenn wir ihn so verstehen, dass wir uns nicht mehr mit unserer Schuld auseinandersetzen, nicht mehr vergeben, nicht mehr umkehren, dann verkehren wir die Botschaft Jesu ins Gegenteil. Es ist Heuchelei, von der Rechtfertigung zu reden und zugleich die Werke der Nachfolge zu vernachlässigen. Denn Jesus zeigt unmissverständlich: Rechtfertigung und Heiligung gehören zusammen. Wer sich für ihn entscheidet, muss auch den Weg der Nachfolge gehen. Ein Glaube, der sich auf Worte beschränkt, ohne im Leben Gestalt zu gewinnen, bleibt leer.
So ruft uns dieses Wort Jesu zur Klarheit: Die Entscheidung für ihn ist nicht nur ein Bekenntnis, sondern ein Weg. Ein Weg, der durch Vergebung, Umkehr und tätige Liebe geprägt ist. Wer diesen Weg verweigert, mag noch so fromm reden und predigen – er bleibt im Widerspruch zu dem, was Jesus selbst gelehrt hat. Darum ist die Bergpredigt bis heute ein Spiegel, der uns zeigt, ob unser Leben mit Gott und unser Leben mit den Menschen wirklich eins geworden sind.
Bernhard Beck
Redaktion „Christuswort“