Aus­le­gung des Vater­un­sers — Mat­thä­us 6, 5–13:

Mat­thä­us 6,5 LUT 1984: “Und wenn wir betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuch­ler, die gern in den Syn­ago­gen und an den Stra­ßen­ecken ste­hen und beten, damit sie von den Leu­ten gese­hen wer­den. Wahr­lich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.”

Jesus warnt sei­ne Jün­ger ein­dring­lich vor der Heu­che­lei im Gebet. Die­se War­nung ist zeit­los und gilt auch uns heu­te unein­ge­schränkt. Denn die Ver­su­chung, Fröm­mig­keit zur Schau zu stel­len, ist nicht ver­schwun­den – sie hat nur neue For­men ange­nom­men. Damals waren es die Syn­ago­gen und Stra­ßen­ecken, heu­te sind es die Büh­nen der digi­ta­len Welt: Kame­ras, Live­streams, sozia­le Netz­wer­ke.

Es gibt Chris­ten, ja auch christ­li­che Influen­cer, die sich ger­ne öffent­lich posi­tio­nie­ren, um beim Beten gese­hen und bewun­dert zu wer­den. Doch Jesus macht klar: Wer betet, um Ein­druck zu schin­den, wer Gebet instru­men­ta­li­siert, um Likes, Applaus oder Fol­lower zu gewin­nen, der hat sei­nen Lohn bereits emp­fan­gen – und zwar den ver­gäng­li­chen Ruhm der Men­schen.

Das wah­re Gebet aber sucht nicht die Büh­ne, son­dern die Gegen­wart Got­tes. Es lebt von der Ver­bor­gen­heit, von der inne­ren Hin­ga­be, von der Ehr­lich­keit des Her­zens. Jesus ruft uns dazu auf, uns nicht von Ruhm­sucht trei­ben zu las­sen, son­dern in Demut und Auf­rich­tig­keit zu beten. Denn nur so wird das Gebet zur Begeg­nung mit dem Vater im Him­mel – und nicht zur Insze­nie­rung vor den Augen der Welt.


Mat­thä­us 6,6 LUT 1984: “Wenn du aber betest, so geh in dein Käm­mer­lein und schließ die Tür zu und bete zu dei­nem Vater, der im Ver­bor­ge­nen ist; und dein Vater, der in das Ver­bor­ge­ne sieht, wird dir´s ver­gel­ten.”

Statt der Ver­su­chung des Selbst­ruhms weist Jesus uns einen ande­ren Weg: das stil­le, ver­bor­ge­ne Gebet. „Wenn du aber betest, so geh in dein Käm­mer­lein und schließ die Tür zu und bete zu dei­nem Vater, der im Ver­bor­ge­nen ist.“ Damit macht Jesus deut­lich: Beten ist kein Schau­spiel, son­dern eine inti­me Begeg­nung mit Gott. Wir dür­fen und sol­len beten – ohne Unter­lass –, doch die rech­te Hal­tung ver­langt Rück­zug, Stil­le und Ein­sam­keit. Dort, wo kein Applaus und kei­ne Zuschau­er sind, öff­net sich der Raum für das ehr­li­che Gespräch mit dem Vater.

Aber auch hier gilt die War­nung: Nicht jedes Nach­den­ken, nicht jede selbst­ge­mach­te Erkennt­nis, nicht jede Tat, die wir als „christ­lich“ eti­ket­tie­ren, ist schon Gebet. Wer das Gebet mit from­mer Fan­ta­sie über­frach­tet, wer sich selbst in den Mit­tel­punkt stellt, läuft Gefahr, eine Fröm­mig­keit zu kul­ti­vie­ren, die bald hei­li­ger erschei­nen will als Gott selbst. Jesus ruft uns zu einer nüch­ter­nen, ehr­li­chen Gebets­hal­tung. Das wah­re Gebet lebt von der Ein­fach­heit des Her­zens, von der Demut, von der Stil­le. Es ist kein Ort für Selbst­in­sze­nie­rung, son­dern für Hin­ga­be.

Als Nach­fol­ger Jesu beten wir gemein­sam – in den Got­tes­diens­ten, in der Gemein­schaft der Glau­ben­den – und wir beten ein­sam, im Käm­mer­lein, in der Ver­bor­gen­heit. Bei­des gehört zusam­men: das gemein­sa­me Gebet, das uns als Leib Chris­ti ver­bin­det, und das per­sön­li­che Gebet, das uns in der Tie­fe mit dem Vater ver­eint.


Mat­thä­us 6,7–8 LUTH 1984: “Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plap­pern wie Hei­den; denn sie mei­nen, sie wer­den erhört, wenn sie vie­le Wor­te machen. Dar­um sollt ihr ihnen nicht glei­chen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bit­tet.”

Jesus warnt uns davor, das Gebet mit vie­len Wor­ten, Wie­der­ho­lun­gen und lee­ren Phra­sen zu über­la­den. Schon damals mein­ten die Hei­den, sie wür­den durch end­lo­ses Reden erhört. Doch Gott lässt sich nicht durch Wort­fül­le beein­dru­cken. Auch heu­te wer­den sei­ten­wei­se Gebets­bit­ten vor­ge­tra­gen, lan­ge Sät­ze for­mu­liert, immer wie­der die­sel­ben Flos­keln wie­der­holt – und doch bleibt das Herz oft unbe­rührt.

Unser Vater im Him­mel sucht nicht das Plap­pern, son­dern das Gebet, das aus der Tie­fe des Her­zens kommt. Er weiß, was wir benö­ti­gen, noch ehe wir ihn dar­um bit­ten. Des­halb ist das Gebet kein Infor­ma­ti­ons­aus­tausch, son­dern ein Aus­druck unse­rer Abhän­gig­keit und Bedürf­tig­keit. Wir beten nicht, um Gott etwas mit­zu­tei­len, was er nicht weiß, son­dern um uns selbst in sei­ne Gegen­wart zu stel­len, unse­re Not und unser Ver­trau­en zu beken­nen.

Die berech­tig­te Fra­ge lau­tet: War­um sol­len wir über­haupt beten, wenn Gott doch schon alles weiß? Die Ant­wort ist: Weil das Gebet die Grund­la­ge unse­res Gesprächs mit ihm ist. Es ist die direk­te Kon­takt­auf­nah­me mit dem leben­di­gen Gott. Im Gebet beken­nen wir, dass wir nicht aus eige­ner Kraft leben kön­nen, son­dern von sei­ner Gna­de abhän­gig sind.

Und noch mehr: Gott tut gewis­se Din­ge als Ant­wort auf das Gebet, die er ande­ren­falls nicht getan hät­te. Das Gebet ist also nicht nur Aus­druck unse­rer Bedürf­tig­keit, son­dern auch ein Werk­zeug, durch das Gott han­delt. Dar­um ruft Jesus uns zu einem schlich­ten, ehr­li­chen Gebet – nicht aus Fan­ta­sie, nicht aus Selbst­dar­stel­lung, son­dern aus der Stil­le und aus dem tiefs­ten Her­zen.


Mat­thä­us 6,9–13 LUTH 1984: Dar­um sollt ihr so beten: “Unser Vater im Him­mel! Dein Name wer­de gehei­ligt. Dein Reich kom­me. Dein Wil­le gesche­he wie im Him­mel so auf Erden. Unser täg­li­ches Brot gib uns heu­te. Und ver­gibt uns unse­re Schuld, wie auch wir ver­ge­ben unse­ren Schul­di­gern. Und füh­re uns nicht in Ver­su­chung, son­dern erlö­se uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herr­lich­keit in Ewig­keit. Amen.”

Vers 9: “Unser Vater im Him­mel! Dein Name wer­de gehei­ligt.” Mit die­sen Wor­ten lehrt uns Jesus, das Gebet an Gott den Vater zu rich­ten. Es beginnt mit der Aner­ken­nung sei­ner sou­ve­rä­nen Herr­schaft über Him­mel und Erde. Das Gebet ist nicht zuerst Bit­te, son­dern Anbe­tung: die Hei­li­gung sei­nes Namens, die Ehr­furcht vor sei­ner Majes­tät.

Doch zugleich dür­fen wir wis­sen: Jesus Chris­tus ist eins mit dem Vater. Er selbst sagt: „Ich und der Vater sind eins.“ (Johan­nes 10,30). Dar­um ist es nicht falsch, wenn wir unse­re Gebe­te auch an ihn rich­ten. Denn wer den Sohn anruft, ruft zugleich den Vater an, und wer den Vater ehrt, ehrt auch den Sohn. Das Vater­un­ser zeigt uns die rech­te Ord­nung: Wir wen­den uns an den Vater, aber wir tun es durch den Sohn, im Hei­li­gen Geist. So bleibt das Gebet tri­ni­ta­risch ver­an­kert – es ist kei­ne mensch­li­che Kon­struk­ti­on, son­dern Teil­ha­be an der gött­li­chen Gemein­schaft.

War­nung: Gebet darf nicht zur blo­ßen For­mel wer­den. „Dein Name wer­de gehei­ligt“ ist kein Lip­pen­be­kennt­nis, son­dern eine Lebens­hal­tung. Wer Got­tes Namen im Gebet hei­ligt, muss ihn auch im All­tag ehren – durch Wor­te, Wer­ke und Her­zen­s­ein­stel­lung.

Ermu­ti­gung: Wir dür­fen mit kind­li­chem Ver­trau­en beten. Gott ist unser Vater, nicht ein fer­ner Herr­scher. Er kennt uns, liebt uns und hört uns.

Das Gebet rich­tet sich an den Vater, aner­kennt sei­ne Herr­schaft und hei­ligt sei­nen Namen. Doch weil Jesus eins mit dem Vater ist, dür­fen wir auch ihn direkt anru­fen. Ent­schei­dend ist nicht die Wort­fül­le, son­dern die Her­zens­hal­tung: Ehr­furcht, Demut und Ver­trau­en.

Vers 10: “Dein Reich kom­me.” Mit die­sem Ruf lehrt uns Jesus, die Anlie­gen Got­tes an die ers­te Stel­le zu set­zen. Nach­dem wir den Vater ange­be­tet und sei­nen Namen gehei­ligt haben, rich­tet sich unser Blick auf sein Reich. Das Gebet ist nicht zuerst auf unse­re Wün­sche und Bedürf­nis­se kon­zen­triert, son­dern auf den Fort­gang der Sache Got­tes.

Wir sol­len beten für den Tag, an dem unser Ret­ter­gott, der Herr Jesus Chris­tus, sein Reich auf Erden auf­rich­ten und in Gerech­tig­keit regie­ren wird. Die­ses Gebet ist Aus­druck der Sehn­sucht nach der Voll­endung, nach dem Kom­men des Königs, der alle Trä­nen abwi­schen und alle Unge­rech­tig­keit besei­ti­gen wird.

Doch zugleich gilt: Das Reich Got­tes ist nicht nur Zukunft, son­dern schon Gegen­wart. Jesus selbst hat gesagt: „Das Reich Got­tes ist mit­ten unter euch.“ (Lukas 17,21). Wer betet „Dein Reich kom­me“, bit­tet dar­um, dass Got­tes Herr­schaft schon jetzt sicht­bar wer­de – in unse­rem Leben, in unse­ren Gemein­den, in unse­rer Welt.

War­nung: Wir dür­fen das Reich Got­tes nicht mit unse­ren eige­nen Pro­jek­ten ver­wech­seln. Es ist nicht mensch­li­che Macht oder reli­giö­se Selbst­dar­stel­lung, son­dern Got­tes sou­ve­rä­nes Han­deln.

Ermu­ti­gung: Wer „Dein Reich kom­me“ betet, stellt sich bewusst unter die Herr­schaft Chris­ti. Die­ses Gebet ist ein Bekennt­nis der Hoff­nung und zugleich eine Ein­la­dung, schon heu­te als Bür­ger sei­nes Rei­ches zu leben – in Gerech­tig­keit, Lie­be und Wahr­heit.

Vers 10a: “Dein Wil­le gesche­he wie im Him­mel so auf Erden.” Mit die­ser Bit­te beken­nen wir, dass Gott allein weiß, was gut und heil­sam ist. Wir unter­stel­len unse­ren Wil­len dem sei­nen und legen unser Leben in sei­ne Hän­de. Das Gebet ist damit ein Akt der Hin­ga­be: Wir ver­zich­ten auf Selbst­ver­wirk­li­chung und beu­gen uns unter die Herr­schaft des Vaters.

Die­se Bit­te drückt zugleich unse­re Sehn­sucht aus, dass Got­tes Wil­le nicht nur in unse­rem per­sön­li­chen Leben, son­dern in der gan­zen Welt aner­kannt wird. So wie die Engel im Him­mel Gott die­nen, so soll auch die Erde von sei­ner Herr­schaft geprägt sein.

War­nung: Chris­ten müs­sen ler­nen, dass nicht ihre Wün­sche und Plä­ne im Zen­trum ste­hen. Wer das Gebet zur Büh­ne eige­ner Sehn­sucht macht, ver­fehlt den Kern. Selbst­ver­wirk­li­chung ist nicht das Ziel des Glau­bens.

Ermu­ti­gung: Wer sich völ­lig in die Hän­de Got­tes begibt, erfährt Frei­heit. Denn Got­tes Wil­le ist nicht Last, son­dern Leben. Er führt uns in eine grö­ße­re Wahr­heit, als wir sie selbst ent­wer­fen könn­ten.

Das Gebet „Dein Wil­le gesche­he“ ist ein täg­li­ches Übungs­feld für Nach­fol­ger Jesu. Es lehrt uns, unse­re eige­nen Vor­stel­lun­gen los­zu­las­sen und uns in Demut und Ver­trau­en dem Vater zu über­ge­ben. So wird unser Leben zum Zeug­nis sei­ner Herr­schaft – auf Erden wie im Him­mel.

Vers 11: “Unser täg­li­ches Brot gib uns heu­te.” Nach­dem wir Got­tes Anlie­gen an die ers­te Stel­le gesetzt haben, dür­fen wir nun auch unse­re eige­nen Nöte vor ihn brin­gen. Die­se Bit­te ist schlicht und ele­men­tar: Sie aner­kennt unse­re Abhän­gig­keit von Gott, der uns das gibt, was wir zum Leben brau­chen – geist­lich wie mate­ri­ell.

Jesus lehrt uns, nicht nach Luxus, Wohl­stand oder ver­gäng­li­chem Glück zu ver­lan­gen. Viel Geld, ein erfolg­rei­cher Han­del, ein reich­lich gefüll­ter Online­shop – all das gehört nicht zu den wich­tigs­ten und dring­lichs­ten Ange­le­gen­hei­ten des Lebens. Das Gebet rich­tet sich nicht auf Über­fluss, son­dern auf das Not­wen­di­ge.

Wir bit­ten um Kraft für den Tag, um den Hei­li­gen Geist, um Weis­heit und Ein­sicht. Wir dan­ken für ein ein­fa­ches, tro­cke­nes Brot – und erken­nen dar­in Got­tes Für­sor­ge. So wird das Gebet zur Schu­le der Genüg­sam­keit: Wir ler­nen, uns mit dem Nöti­gen zufrie­den zu geben und dar­in Got­tes Güte zu sehen.

War­nung: Wer das Gebet mit mate­ri­el­len Wün­schen über­frach­tet, ver­fehlt den Kern. Gott ist kein Garant für Wohl­stand, son­dern der Vater, der uns das Lebens­not­wen­di­ge schenkt.

Ermu­ti­gung: Wer um das täg­li­che Brot bit­tet, erfährt die Treue Got­tes. Er gibt uns, was wir brau­chen – nicht immer, was wir wol­len, aber immer, was uns trägt.

Das täg­li­che Brot ist mehr als Nah­rung: Es ist Sinn­bild für Got­tes Ver­sor­gung in allen Din­gen. Die­se Bit­te lehrt uns Demut, Dank­bar­keit und Ver­trau­en. Sie rich­tet unse­ren Blick weg von der Selbst­ver­wirk­li­chung hin zur Abhän­gig­keit von Gott, der uns Tag für Tag erhält.

Vers 12: “Und ver­gibt uns unse­re Schuld, wie auch wir ver­ge­ben unse­ren Schul­di­gern.”

Die­se Wor­te wer­den regel­mä­ßig gespro­chen, doch erschre­ckend sel­ten wirk­lich umge­setzt. Es stellt sich die Fra­ge, ob uns in der Tie­fe bewusst ist, was die­ser Satz eigent­lich bedeu­tet. Die­se Bit­te ver­knüpft unmit­tel­bar die Ver­ge­bung, die wir von Gott erbit­ten, mit unse­rer Bereit­schaft, ande­ren zu ver­ge­ben. Wer als Jün­ger Jesu nicht bereit ist zu ver­ge­ben, der kann gleich­zei­tig nicht von Gott die Ver­ge­bung sei­ner eige­nen Schuld erwar­ten. Die­se For­de­rung ist klar und ein­deu­tig. Sie bie­tet kei­nen Spiel­raum für Aus­nah­men oder Kom­pro­mis­se. Wer an sei­ner Sün­de fest­hält, bleibt in ihr gefan­gen. Gott befreit ihn nicht, solan­ge er sie nicht los­lässt. Die­se Erkennt­nis ist scharf und kann uns in unse­rer moder­nen reli­giö­sen Pra­xis durch­aus unan­ge­nehm erschei­nen. Sie gilt jedoch unein­ge­schränkt. Als Chris­ten ste­hen wir damit vor einer exis­ten­zi­el­len Her­aus­for­de­rung, die wir nicht umge­hen oder beschö­ni­gen dür­fen. Das Gebet des Vater­un­sers bringt in aller Nüch­tern­heit die zwin­gen­de Kon­se­quenz des Lebens mit Gott zum Aus­druck und macht deut­lich, dass wah­re Ver­söh­nung nur mög­lich ist, wenn wir selbst ver­ge­ben.

Jesus’ Leh­re zeigt hier ihre unver­min­der­te Här­te und glas­kla­re Wahr­heit. Wäh­rend wir stän­dig von Lie­be spre­chen und die Bibel zitie­ren, fehlt es häu­fig an der Bereit­schaft, wirk­lich zu ver­ge­ben. Das ist eine unbe­que­me Rea­li­tät, der wir uns ehr­lich stel­len müs­sen. Dabei liegt das Prin­zip des Ver­ge­bens kei­nes­wegs nur im Neu­en Tes­ta­ment. Schon im Buch Sirach, einem der Weis­heits­bü­cher der Bibel, fin­den wir eine kla­re Auf­for­de­rung: „Ver­gibt dei­nen Nächs­ten, was er dir zulei­de getan hat.“ (Sirach 28,2) Die­se Auf­for­de­rung knüpft an eine lan­ge Tra­di­ti­on an, die das Ver­ge­ben als eine unab­ding­ba­re Grund­la­ge des christ­li­chen Lebens ver­steht. Das Vater­un­ser macht unmiss­ver­ständ­lich deut­lich, dass die Bereit­schaft zur Ver­ge­bung die Grund­la­ge für die geist­li­che und neue Exis­tenz eines Chris­ten ist. Ohne Ver­ge­bung der Sün­de ist es unmög­lich, ein wah­rer Jün­ger Jesu zu sein. Wer sich wei­gert, ande­ren zu ver­ge­ben, der ver­schließt sich selbst vor dem Leben des Glau­bens. Es gibt kei­ne Umge­hung davon und kei­ne Ver­klä­rung, die die­se Wahr­heit mil­dern könn­te. Jesus beschreibt die­sen Weg als die enge Pfor­te, die vie­le scheu­en, doch genau die­se führt zum Leben.

Vers 13: “Und ver­gibt uns unse­re Schuld, wie auch wir ver­ge­ben unse­ren Schul­di­gern. Und füh­re uns nicht in Ver­su­chung, son­dern erlö­se uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herr­lich­keit in Ewig­keit.” Damit wird deut­lich: Gott selbst führt nicht in Ver­su­chung, doch er erlaubt Prü­fun­gen, in denen unser Glau­be bewährt wird.

Die­se Bit­te ist der Höhe­punkt des Vater­un­sers und fasst die gan­ze Not und Sehn­sucht des Men­schen zusam­men. Sie ver­bin­det die Ver­ge­bung mit der Bewah­rung und mün­det in der Anbe­tung Got­tes.

Auf den ers­ten Blick scheint die­se Bit­te Jako­bus 1,13 zu wider­spre­chen, wo es heißt, dass Gott nie­man­den ver­sucht: “Nie­mand sage, wenn er ver­sucht wird, dass er von Gott ver­sucht wer­de. Denn Gott kann nicht ver­sucht wer­den zum Bösen, und er selbst ver­sucht nie­mand.” Doch die Span­nung löst sich, wenn wir ver­ste­hen: Gott selbst ver­führt nicht zum Bösen, aber er erlaubt Prü­fun­gen, in denen unser Glau­be gestärkt und bewährt wird. Die Bit­te „füh­re uns nicht in Ver­su­chung“ ist Aus­druck eines gesun­den Miss­trau­ens gegen­über der eige­nen Kraft. Sie bekennt: Wir sind nicht stark genug, Ver­su­chun­gen aus eige­ner Macht zu wider­ste­hen. Wir brau­chen die Bewah­rung des Herrn.

Erlö­se uns von dem Bösen“: Die­se Bit­te ist der Schrei des Her­zens nach täg­li­cher Hei­li­gung. Sie rich­tet sich gegen die Macht der Sün­de und gegen den Satan, der uns zu Fall brin­gen will. Wer so betet, bekennt sei­ne völ­li­ge Abhän­gig­keit von der Kraft Got­tes. Es ist das Gebet aller, die sich danach seh­nen, durch den Hei­li­gen Geist bewahrt und gestärkt zu wer­den.

Das Böse begeg­net uns in viel­fäl­ti­ger Gestalt: in Ver­su­chun­gen, die uns locken, in Struk­tu­ren der Unge­rech­tig­keit, die uns umge­ben, und nicht zuletzt in den dunk­len Nei­gun­gen unse­res eige­nen Her­zens. Dar­um ist die­se Bit­te zugleich ein Ruf nach Rei­ni­gung, nach inne­rer Erneue­rung, nach einem rei­nen Her­zen, das Gott allein gehört. Sie rich­tet den Blick nicht nur auf die Gegen­wart, son­dern auch auf die Zukunft, auf die end­gül­ti­ge Erlö­sung, wenn Chris­tus wie­der­kommt und das Böse end­gül­tig besiegt wird. „Erlö­se uns von dem Bösen“ ist damit ein Gebet der Demut, weil wir unse­re Abhän­gig­keit beken­nen, und ein Gebet der Hoff­nung, weil wir auf Got­tes Macht ver­trau­en. Es ist die täg­li­che Schu­le des Glau­bens, in der wir ler­nen, uns nicht auf unse­re eige­ne Stär­ke zu ver­las­sen, son­dern uns ganz in die Hän­de des Vaters zu geben, der uns durch sei­nen Geist bewahrt und uns Schritt für Schritt hei­ligt. So wird die­se Bit­te zum Aus­druck einer tie­fen Sehn­sucht: frei zu wer­den von der Macht der Sün­de und zugleich fest­zu­hal­ten an der Hoff­nung, dass Got­tes Reich, sei­ne Kraft und sei­ne Herr­lich­keit in Ewig­keit bestehen.

Das Vater­un­ser schließt mit einem macht­vol­len Lob­preis, der den gan­zen Weg des Gebets zusam­men­fasst und voll­endet. Nach­dem wir unse­re Schuld bekannt, um Bewah­rung gebe­ten und die Erlö­sung von dem Bösen erfleht haben, rich­tet sich unser Blick auf Gott selbst. „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herr­lich­keit in Ewig­keit. Amen.“ – die­se Wor­te sind wie ein Sie­gel über alle Bit­ten.

Sie erin­nern uns dar­an, dass Gott allein die Herr­schaft hat, dass sei­ne Kraft grö­ßer ist als jede Ver­su­chung und dass sei­ne Herr­lich­keit unver­gäng­lich bleibt. Das Gebet endet nicht in der Schwach­heit des Men­schen, son­dern in der Stär­ke Got­tes. Es ist ein Bekennt­nis, dass alles, was wir erbit­ten, letzt­lich in sei­ner Macht steht und von sei­ner Herr­lich­keit über­strahlt wird.

So wird das Vater­un­ser zu einem Gebet, das uns von der Gefahr der Heu­che­lei über die Schu­le der Genüg­sam­keit bis hin zur Hoff­nung auf end­gül­ti­ge Erlö­sung führt. Es mün­det in den Lob­preis, der uns lehrt: Gott ist König, Gott ist stark, Gott ist herr­lich – und das für alle Zeit. Mit dem „Amen“ bekräf­ti­gen wir unser Ver­trau­en, dass er unse­re Bit­ten hört und erfüllt, nicht nach unse­rem Maß, son­dern nach sei­ner ewi­gen Weis­heit und Lie­be.

Bern­hard Beck
Redak­ti­on „Chris­tus­wort“

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